- Mit dem Fahrrad auf Reisen:
Irland
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Irland per Rad?? Das
doppelte Fragezeichen habe ich in den Augen vieler Bekannter
gesehen, wenn ich von meinen Fahrrad-Reiseplänen für die
„Grüne Insel“ erzählte. Wer schon einmal dort
gewesen ist oder sonst ein paar Kenntnisse über die
geografischen und klimatischen Eigenheiten Irlands hat, betrachtet
das Fahrrad offensichtlich meist als wenig angemessenes
Verkehrsmittel.
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Irland per Rad? Na, wie
denn sonst!, lautet meine ebenso selbstverständlich
ausgesprochene Antwort. Ein großer deutscher Automobilklub
behauptet in seinem touristischen Merkblatt für
Irland-Reisende, daß das Auto dort ein unverzichtbares
Transportmittel sei – sonst bleibe „der Zauber dieses
Landes verborgen“, da man die schönsten, weil
abgelegensten Gebiete nicht sehen könnte. Das ist jedoch
allenfalls ein Plädoyer für ein Individual-Verkehrsmittel;
Fahrräder werden von diesem Lobby-Verband eben nur als
Ausgleichssportgerät für gestreßte Automobilisten
angesehen. Ich behaupte aufgrund meiner Erfahrungen mit Auto- wie
mit Fahrradreisen, daß das Fahrrad das eindeutig sinnvollste
Reiseverkehrsmittel für Länder wie Irland ist –
Länder, in denen noch Reisen im klassischen Sinne möglich
sind; Reisen, bei denen man die Strecke nicht als zu überwindende
Entfernung zwischen zwei Sehenswürdigkeiten betrachtet, sondern
als die Hauptsache, als Landschaft, die im doppelten Sinne zu
erfahren ist. Dazu gehören eine Landschaftsgestaltung, die den
Reisenden nicht auf Asphaltschneisen von der Umgebung abtrennt, eine
Fortbewegungsart, bei der Steigungen bewußt wahrgenommen und
nicht nur anhand des Höhenmessers auf dem Armaturenbrett
registriert werden, ein Tempo, das den Anblick der einzelnen Blume
am Wegesrand genauso ermöglicht wie das Erreichen eines Zieles
außerhalb der unmittelbaren Sichtweite.
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Irland und das Fahrrad sind für
solche Reisen die ideale Kombination. Kunstvoll-künstlich
angelegte, überbreite Schnellstraßen sind dort gottlob
die Ausnahme; in der Regel richtet sich die Straßenführung
nach den Begrenzungen der Weiden und Felder. Eine gute Straße
(aus Radfahrersicht) ist schmal, gewunden, baum- oder heckengesäumt
und unübersichtlich – für Autofahrer eine
schreckliche Vorstellung.
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Auf diesen Straßen ist der
Fahrradreisende dem Automobilisten ebenso überlegen wie dem
Fußgänger mit Rucksack und erhobenem Daumen, der meist
lediglich zu einem Autotouristen in fremden Blechkisten wird. Zum
Wandern eignet sich Irland wegen der stark zergliederten Landschaft
ohne nur auf ausgeschilderten Wanderwegen, die vorrangig in
Berggebieten angelegt wurden. Das Fahrrad ist der ideale Kompromiß
zwischen dem zu langsamen Laufen längs der Straßen und
dem zu schnellen Kilometerfressen im Auto. Nicht nur der Anblick der
durchradelten Landschaft wird auf dem Drahtesel intensiver erlebt,
sondern auch der sonst meist stark vernachlässigte Geruchssinn
kommt zum Einsatz. Ländliche Gerüche sind kein
unerwünschter Gestank im vermeintlich wohlriechenden Fahrzeug,
sondern verknüpfen sich nahtlos mit den erblickten Gehöften,
Tieren und Menschen. Der Genuß, stundenlang zwischen duftenden
Rhododendron- und Fuchsienhecken hindurchzufahren, ist
Nicht-Fahrradfahrern ohnehin verschlossen. Frisch gemähtes Gras
und Heu verströmen ebenso Wohlgerüche wie Ziegen und
Schafe, die am Straßenrand grasen. Ganz zu schweigen vom Rauch
des Torffeuers, dem typischsten aller irischen Gerüche.
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In Verbindung mit dem optischen
Genuß der diversen „Grüns“ der Insel (eine
Farbenlehre für alle, die bisher glaubten, Grün sei nur
eine Farbe) ergibt sich ein Landschaftserlebnis von solcher
Intensität, daß man geneigt ist, vorbeihuschende
Autofahrer, denen das alles größtenteils entgeht, zu
bemitleiden. Das Lustgefühl wird auch nicht dadurch
geschmälert, daß Irland – zu Recht – den Ruf
eines eher feuchten Urlaubslandes hat, denn auch Regen – in
Maßen, nicht in Massen genossen – wird zum Teil der
Landschaft und des Urlaubsempfindens.
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Die normalerweise täglich –
evtl. mehrmals – niederprasselnden Regentropfen dürfen
daher den Irland-Reisenden nicht schrecken. Wer einen Ausruh-Urlaub
ohne physische Anstrengungen sucht, sollte die Grüne Insel
besser meiden – für solche Art Erholung bietet das Land
zu wenig. Obwohl es natürlich auch die üblichen Ferienorte
mit Andenkenläden, Hamburger-Ketten und Amüsierzentren
gibt, bei denen der nächste Strand – mit viel zu kaltem
Wasser – nicht weit ist; Ferienorte in der Art von Travemünde
und Torquay, Alicante und Ajaccio, so typisch für Irland wie
Coca-Cola und Kartoffelchips.
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Wer in Irland wirklich Irland
sucht und kein Einheits-Tourismusangebot, wird die glücklicherweise
spärlich auftretenden Touristen-„Zentren“ so weit
wie möglich meiden. Das Land ist ohnehin da am
interessantesten, wo seine Vermarktung noch unvollkommen ist. Der
vielgerühmte „Kontakt mit der Bevölkerung“ ist
hier noch möglich, ja fast unvermeidbar. Die nahezu mediterran
anmutende Offenheit und Freundlichkeit der Iren macht Einsamkeit zur
Unwahrscheinlichkeit. Über das unerschöpflichste aller
Themen – das Wetter – ist immer der Einstieg in eine
Konversation gegeben; Ausmaß und Ende der Unterhaltung
bestimmt jeder selbst. Wer mag, kann Kontakte auf der Landstraße
knüpfen – vom (allgemein üblichen) Gruß bis
zum längeren Gespräch ist es nur ein kleiner Schritt.
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Der Fahrradreisende ist dabei
eindeutig im Vorteil, da er, jederzeit akustisch erreichbar, auf
einem Verkehrsmittel unterwegs ist, das als Alltagsgefährt vor
allem der Landbevölkerung dient. Die Verwendung als
Reisetransportmittel wird zwar meist – wie fast überall –
als Obskurität betrachtet, hat aber angesehene historische
Vorbilder. Anfang des 20. Jahrhunderts bereiste William Bulfin, ein
Exil-Ire aus Argentinien, mit dem Fahrrad sieben Monate lang auf
5000 km die Insel und veröffentlichte seine vielbeachteten
Reisenotizen Rambles in Eirinn zuerst in irischen und
amerikanischen Zeitungen, später als Buch, das nach wie vor
lesenswert ist.
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Wer auf seinem Fahrrad in einem
der unzähligen irischen Dörfer Halt macht, darf darauf
vertrauen, daß die Einwohner ihm gegenüber weniger
zurückhaltend sind als bei anderen Touristen. Das gilt selbst
in der Gaeltacht, jenen irischen Sprachreservaten in
abgelegenen Gegenden, in denen die Bauern an die Benutzung der
englischen Sprache kaum gewöhnt sind. In jedem Fall ist die
visuelle Kontaktaufnahme für beide Seiten ein Erlebnis; der
eigenwillige Menschenschlag irischer Randgebiete ist für
Touristen ebenso „sehenswert“ wie der Fremde für
die in der Dorfkneipe zusammengekommenen „Eingeborenen“
– ein durchaus wechselseitiges Lustgefühl des Sehens und
Gesehenwerdens.
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